Was sagt uns die Biografie über das Verhalten eines Menschen?

Bei der Pflege von dementen Menschen liegen die „Zugangsschlüssel” zur „Seele” des Patienten oft in deren Biografie. Je besser die Pflegenden mit den genauen Lebensumständen von Personen vertraut sind, desto eher können sie dabei mithelfen, dass sich Betroffene länger daran erinnern, wer sie eigentlich sind. Außerdem hilft Biografiearbeit den Pflegenden dabei, Konfliktsituationen besser zu verstehen und zu entschärfen, weil sie ein tieferes Verständnis ermöglicht.

Wer demente Menschen täglich betreut kennt solche Geschichte zuhauf: Die Tochter besucht ihren an Demenz erkrankten Vater, der ihr wieder einmal dieselbe Geschichte erzählt, wie er damals mit seinen eigenen Händen das Haus der Familie ganz allein gebaut hat. So erzählt er es ihr heute. So erzählte er es ihr gestern und morgen wird er es ihr genauso erzählen. Bis ihr, der Tochter, vielleicht der Geduldsfaden reißt – das ist nur menschlich – und erbost schimpft: „Ach Papa, das hast du mir doch schon hundertmal erzählt.” Das Ergebnis solcher Situationen sind Missverständnisse und Störungen des persönlichen Verhältnisses.

Dass es Angehörigen an vielen Stellen schwer fällt, die nötige Geduld aufzubringen, ist wie gesagt nur menschlich. Doch viele solcher Missverständnisse müssten gar nicht auftreten, wenn ein größeres Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass viele „demente Angewohnheiten” – also das Wiederholen bestimmter Ereignisse oder das immer gleiche Reagieren auf bestimmte Vorkommnisse – einfach in der Biografie der betroffenen Menschen verwurzelt sind.

Auf den Punkt gebracht bedeutet dies für Menschen, die im ständigen Umgang mit Demenzkranken stehen: Menschen besitzen so gut wie kein Kurzzeitgedächtnis, sie wissen nicht, dass sie immer gleich reagieren oder immer dasselbe erzählen. Kritik an diesem Verhalten kann Demenzpatienten im Grunde nur verletzen und trägt zu keiner Lösung bei. Viel wichtiger wäre zu verstehen, um noch einmal auf das obige Beispiel zu kommen, dass der Bau des Einfamilienhauses für den Vater ein einschneidendes Erlebnis in seiner Vita war und es deshalb noch immer so präsent ist. Er spricht darüber, weil es für ihn wichtig ist. Die prägenden Erlebnisse seiner Patienten zu kennen, kann also der Schlüssel sein, um einen besseren Zugang zu ihren persönlichen Lebenswelten zu finden und sie darin zu unterstützen.

Bedeutung von Biografieunterlagen

Doch in den meisten Biografieunterlagen wird oft nicht nachgefragt nach verarbeiteten oder nicht verarbeiteten Erlebnissen.

  • Wie hat Frau Mustermann die besagten Erlebnisse und Konflikte verarbeitet?
  • Welches Verhaltensmuster legte der Mensch bei Konflikten an den Tag?

Wer auf solche Fragen die passenden Antworten findet, kann betroffenen Menschen in ihrem oft herausfordernden Verhalten viel besser verstehen. Ein Beispiel? Wenn sich jemand Zeit seines Lebens bei Konflikten lautstark verbal geäußert hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieser Jemand auch im Alter recht laut „drauflosschreit”, wenn ihm gerade etwas nicht passt.

Welche (traumatischen) Erlebnisse liegen hinter einem langen Leben? Angehörigen und Pflegenden hilft solches Wissen enorm weiter, „richtig” zu „re”-„agieren”. Quelle: wikimedia.org

Das Gegenüber kann dann natürlich ganz anders reagieren, wenn es diese wichtige Information bereits besitzt.

Das Signal des Empfängers lautet dann nämlich nicht „Was soll ich bloß tun?”, „Warum ist der so aggressiv”, sondern eher „irgendetwas stört diesen Menschen, und ich muss herausfinden, was es ist.” Das hilft nicht nur dem Patienten, der sich womöglich schneller beruhigen kann, sondern logischerweise auch der Pflegekraft, die innerlich mehr Ruhe verspüren kann.

Oder ein anderes Beispiel: Kleine Konflikte, die sich um simpelste Sachen wie Kleidung oder Essen drehen, haben dennoch oft eine große Wirkung auf den Menschen. Was ist wenn ein Demenzkranker sich jedes Mal zurückzieht, sollte es zu einer „Diskussion” oder einer „Meinungsverschiedenheit” kommen? Liegt es dann nicht auf der Hand, dass sich derjenige bei Auseinandersetzungen sein Leben lang so verhalten und oft „die Flucht ergriffen hat”. Wer solche Feinheiten einer Biografie kennt, kann anders damit umgehen, frei nach dem Motto: Der Klügere gibt nach.

Verlust ist ein großes Thema

Ohnehin sind es oft die Verluste im Leben, die gerade bei an Demenz erkrankten Menschen etwas „Unverarbeitetes” oder etwas „Unerledigtes” zurück an das oberflächliche Verhalten spiegeln. Nehmen wir an, ein Mensch mit Demenz hat ein verstorbenen Kind zu betrauern gehabt, oder – eher das Gegenteil – konnte seinen Kinderwunsch niemals erfüllen.

Viele demenzkranke Menschen verarbeiten das dann oft erst im höheren Alter, wenn ihr Gedächtnis den inneren Fokus verschiebt. Da wäre zum Beispiel die eine Frau zu nennen, die Tag und Nacht immer eine Puppe mit sich trägt, kämmt, kleidet und füttert, so als wäre es das eigene richtige Kind. Dabei kann natürlich gerade der biografische HIntergrund dabei helfen, die Beweggründe für dieses Verhalten auch wirklich zu verstehen.

Offene oder unerledigte Vorkommnisse im Leben eines Menschen können im Alter zu einer starken Triebfeder werden – insbesondere bei Demenzkranken. Quelle: unsplash.com

Fatal wäre es nämlich, dieses Verhalten nicht zu akzeptieren und der betroffenen Person am Ende auch noch ihr Verhalten abgewöhnen zu wollen oder gar zu verbieten. Eher ist es essenziell zu verstehen, dass demenziell Erkrankte in Ihrer eigenen Welt leben, in der es kein richtig oder falsch gibt – zumindest nicht in dem Sinne, wie gesunde (nicht an Demenz erkrankte) Menschen an solche Fragen herangehen würden.

Demenzkranke verarbeiten und erledigen offene oder unerledigte Dinge, bevor sie irgendwann „gehen”, oder vielleicht sogar überhaupt erst „gehen können”.

Fazit

Doch Vorsicht: Auch bei den oben genannten Beispielen besteht keine Garantie, dass immer ein Zusammenhang zwischen der Biografie und dem gegenwärtigen Verhalten existiert. Es handelt sich dabei eher um Wahrscheinlichkeiten. Doch wie oben beschrieben kann die Biografie Schlüsselerlebnisse erklären, die sich auf das spätere Verhalten auswirken (können). Sie zu kennen, das kann im Grunde niemals schaden.

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